Es geziemt sich, dass wir heute jenes Mannes gedenken, der vor drei Jahrhunderten als französischer Glaubensflüchtling über Basel nach Brugg gekommen ist, der hier eine neue Heimat gefunden und der das Geschlecht der Belart von Brugg begründet hat: Claude Belart. Folgen wir den Spuren seines Lebens, wie sie sich in Stadt- und Kirchenbüchern finden, und versetzen wir uns im Geiste in das Brugg um die Mitte des 17. Jahrhunderts.
Wie erschien unser Städtchen dem Neuankömmling? Welches waren die bestimmenden Merkmale, welches die gestaltenden Kräfte und Persönlichkeiten?
Brugg mit seinen kaum 1'000 Einwohnern war noch ganz von Mauern umschlossen. Ausserhalb derselben standen nur wenige Bauten: An der Baslerstrasse die Brunnenmühle und das Siechenhaus, auf dem Vorfeld unterhalb der Vorstadt das Schützenhaus und die Ziegelei, da und dort einige Wirtschaftsbauten, wie Trotten, Scheunen und Gerbereien.
Die Bürger übten fast alle ein Gewerbe aus, das für die Bedürfnisse der Stadt und der nähern Umgebung sorgte. Ein namhaftes Exportgewerbe fehlte. Daneben betrieben manche noch etwas Landwirtschaft und Weinbau. Reben bedeckten die Abhänge des Bruggerberges und der nahe gelegenen Hügel. Das Gewerbe umfasste die vier Zweige des Nahrungsmittel-, Bau-, Metall- und Bekleidungsgewerbes; das letztgenannte wies die Berufe der Weber, Lismer, Schneider, Tuchscherer, Hutmacher, Färber, Gerber, Kürschner und Schuhmacher auf. Hier gliederte sich Claude Belart als Weissgerber ein. Das gewerbliche Leben war durch die zahlreichen Bestimmungen des städtischen Rates geregelt. Sie betrafen nicht nur Preis und Qualität, sondern auch die nähern Produktions- und Verkaufsbedingungen. Wenn auch eigentliche Zünfte wegen der Kleinheit der Verhältnisse fehlten, so herrschte doch ganz der Geist der Zunft: Jeder Berufszweig hielt Konkurrenz möglichst fern und wachte ängstlich darüber, dass von verwandten Berufen her keine Übergriffe in seine Tätigkeit vorkamen.
Das Regiment der Stadt wurde alljährlich am Maiending besetzt, zu welchem längst nicht mehr die gesamte Bürgerschaft, sondern nur noch eine Auslese von etwa dreissig Bürgern, die sogenannten «Wahlherren», aufgeboten wurden. Es bestand aus dem Kleinen Rat mit acht und dem Grossen Rat mit zwölf Mitgliedern. An der Spitze stand der Schultheiss, der meist in zweijährigem Turnus wechselte. Daneben gab es eine Fülle der verschiedensten Ämter. So versahen den Dienst der Lebensmittelpolizei eigene Fleisch-, Fisch-, Brot- und Kornschauer, Schlüssler wachten über die Tore, und zu jedem Brunnen war eine besondere Aufsicht bestimmt. Von grosser Bedeutung für das Leben der Bürger war das durch die Reformation geschaffene Chor- oder Ehegericht. Es wachte mit Strenge über die gesamte Lebensführung des Bürgers und verschaffte den von Bern ausgehenden Mandaten Nachachtung. Nicht nur gegen jegliche Ausschweifung wurde eingeschritten, sondern auch mancherlei Lustbarkeiten wie Tanz und Spiel waren verpönt.
Fragen wir nach den führenden Familien jener Zeit, so muss an erster Stelle das Geschlecht der Effinger genannt werden. Schon im 15. Jahrhundert hatte es der Stadt zwei Schultheissen gestellt, und auch nach der Erwerbung der Wildegg im Jahre 1484 war ein Zweig in Brugg geblieben; seine Angehörigen gehörten dann im 16. Jahrhundert in gesellschaftlicher Hinsicht zu den führenden Schichten. Junker Hans Friedrich Effinger, der letzte seines Zweiges, lenkte als Schultheiss die Schicksale der Stadt während des Dreissigjährigen Krieges. Unter seinem Regiment entstanden die neuen Befestigungswerke, und die Stadt erhielt verschiedene neue Geschütze. Sein hochgemuter Geist strebte aber nach Höherem: Ihm verdankt die Stadt den Bau der Lateinschule im Jahre 1638, die Ausstattung der Kirche mit der Kanzel, dem Taufstein und dem Abendmahlstisch, die heute noch ihr schönster Schmuck sind, und die Gründung der Stadtbibliothek 1640. Und auch der Armen gedachte er in einer hochherzigen Stiftung. Wie der Name Berns auf alle Zeiten mit dem Namen der Edeln von Bubenberg verknüpft sein wird, so kann von der Geschichte Bruggs nicht gesprochen werden, ohne der Familie der Effinger zu gedenken.
Die Grülich hatten fast alles von ihrer einstigen Bedeutung eingebüsst. In vorreformatorischer Zeit waren sie mit ihrem Anhang die beherrschende Macht in der Stadt gewesen. Sie hatten der Stadt vier Schultheissen gestellt und den Aufbau nach der Mordnacht 1444 geleitet. Diese ihre Taten haben sie in den Stadtbüchern als die Geschichtsschreiber ihres eigenen Ruhms der Nachwelt überliefert. Nach einigen spektakulären Ereignissen waren sie in den Hintergrund gedrängt worden und sassen seither als Müller auf der Brunnenmühle.
Andere Familien hatten sie abgelöst. Zwei der bedeutendsten seien vorab genannt: Die Füchsli, 1501 eingebürgert, waren vom Anfang an im städtischen Rat vertreten. Balthasar Füchsli war dann ein bedeutender, langjähriger Schultheiss des 16. Jahrhunderts, unter welchem die Stadt durch die Erstellung neuer Brunnen, den Bau einer neuen Brücke und den Neubau des Rathauses grosse Fortschritte machte. – Die Frölich waren bei der Ankunft Claude Belarts schon ein Jahrhundert Brugger Bürger. 1549 hatten sich der Krämer Erhart Frölich von Lausanne hier eingebürgert. Seine Söhne zogen in den Rat ein, und die beiden Enkel Josua und David wurden Schulheissen; die Amtszeit des letzteren fällt mit Claudes Lebenszeit in Brugg zusammen.
Wohl an die zwanzig weitere Familien wären hier zu erwähnen, deren Angehörige seit Jahrzehnten im städtischen Rate gesessen und die Schicksale Bruggs bestimmt hatten. Die Keyserysen, auch Schmid genannt, waren damals schon seit 200 Jahren Brugger Bürger. Klaus war als Schultheiss und Michael als Lateinschulmeister hervorgetreten, und zu Claude Belarts Zeit wirkte als Pfarrer und Dekan Johann Conrad Keyserysen. – Zwar nicht der aktuellen Bedeutung nach, aber nach dem Alter des Bürgerrechts gliederten sich hier die Stanz und die Stäbli ein. – Die Zulauf waren seit 1521 in Brugg eingebürgert und schauten mit Stolz auf ihren Stammvater Marti zurück, der als Schultheiss und energischer Truppenführer im Kappelerkrieg hervorgetreten war. Nun arbeiteten die Zulauf meistens als Färber. – Die Völkli wiesen ebenfalls schon im vorigen Jahrhundert einen Schultheissen auf, und zu Beginn des 17. Jahrhunderts war Lorenz Völkli, zuerst Stadt- und Landschreiber, dann langjähriger Schultheiss und Twingherr zu Böttstein, eine der bedeutendsten Gestalten. – Noch seien die Rüeff und Rauchenstein erwähnt, die beide ebenfalls im vorigen Jahrhundert eingebürgert waren und zu Claudes Zeiten der Stadt Schreiber und Schultheissen stellten. Ihnen schlossen sich an die Familien Burckhardt, Hummel, Pfau, Jäger, Meyer, Zimmermann, Wyss, Brügger, Schilpli und andere, meist ehrbare Handwerksmeister und Mitglieder der Brugger Stubengesellschaft. Diese noch auf die habsburgische Zeit zurückgehende Vereinigung umfasste ursprünglich den Adel der Stadt und der umliegenden Burgen, sowie die Geistlichkeit und vielleicht einige Angehörige der obersten Bürgerschichten. Nun war sie der gesellschaftliche Treffpunkt des Bürgertums überhaupt geworden.
Nachdem wir nun in groben Zügen uns eine Vorstellung von Alt-Brugg gebildet haben, wollen wir die persönlichen Schicksale Claude Belarts betrachten.
Am Maiending 1646 wurde «Claude Belard von Basel, seines Handwerks weiss Läder zu arbeitten» nach Vorweisung seiner Schriften als Hintersäss angenommen. Er dachte zunächst nicht daran, sich hier dauernd niederzulassen. Der Dreissigjährige Krieg ging seinem Ende entgegen, und Claude hoffte, nach Friedensschluss wieder in seine Heimat zurückzukehren. Als man 1650 alle Hintersässen von der Stadt wies, machte der Rat mit Claude – oder Glado, wie er hier genannt wurde – eine Ausnahme, da er um der Religion willen aus seiner Heimat vertrieben worden sei. Im Jahre darauf, am 12. Mai 1651, wurde er dann in Gegenwart von Schultheiss, Rat, Zwölf und der Wahlherren zum Bürger aufgenommen. Die Einkaufssumme wurde auf 100 Gulden und eine vergoldete Schale festgesetzt. Claude musste sich ferner verpflichten, sich an sein Handwerk zu halten und bereitwillig die Söhne der Bürger zu bescheidenem Lehrgeld als Lehrlinge anzunehmen.
Nun konnte Claude daran gehen, sich einen Hausstand zu schaffen und eine Existenz aufzubauen. Einen Monat nach seiner Einbürgerung, am 9. Juni 1651, schloss er mit Salome Stäblin die Ehe. Seine Gattin schenkte ihm bis 1662 sieben Kinder, die alle biblische Namen erhielten: Moses, Aaron, Hans Jacob, Abraham, Susanne und Salome. Ein Mädchen, ebenfalls Salome geheissen, starb wohl im frühen Kindesalter.
Claude wohnte an der Hauptstrasse oder wie man damals sagte «am Markt», vermutlich im Haus zur Rose, das später im Besitz seines Sohnes Moses erscheint. Er erwarb noch im Jahr seiner Einbürgerung eine Gerberei mit Garten ausserhalb der Mauern, zum Preis von 300 Gulden und 2 Dublonen, wo er nun seinem Gewerbe oblag. Die Felle und Häute kaufte er an verschiedenen Orten ein, Einkäufe in Zurzach und Zofingen sind bezeugt. Bald begnügte er sich nicht mehr mit seinem Handwerk. Er begann mit Spezereien, Gewürzen, Seife, Latten- und Schindelnägeln, mit Brasilholz und dem für die Beleuchtung wichtigen Unschlitt zu handeln. Dies brachte ihm die Feindschaft verschiedener Bürger ein, denen diese Konkurrenz gar nicht erwünscht war. Der städtische Rat aber schützte ihn noch 1656 mit der ausdrücklichen Begründung, da er die Ware billiger liefere, diene er der Bürgerschaft und bewirke vermehrten Verkehr. Dieser Schutz war aber kein dauernder. Als 1664 der Herr Dekan Keyserysen erneut Einsprache erhob, weil sein Sohn durch diesen Handel Belarts geschädigt werde, da wurde Claude auf seinen eigentlichen Beruf verwiesen.
Claude erwarb auch einige Beuden und vor allem etwas Rebland: zwei kleinere Stücke in der Sommerhalde und zwei Jucharten im Hasli bei Remigen. Er wollte den Wein in seinem Hause nicht missen, und er verkaufte gelegentlich auch nach auswärts.
Es muss Claude nicht leicht gefallen sein, sich in Brugg einzuleben. Wir haben schon gehört, wie das Chorgericht darauf bedacht war, alle Lustbarkeiten möglichst einzuschränken. Claude aber hatte ein lebenslustiges Naturell und neigte zu mancherlei Spässen. So musste er denn mehrmals vor den strengen Herren erscheinen und sich verantworten, weil er im Roten Hause getanzt hatte oder mit dem aus dem Sundgau zugewanderten Goldschmied Friedrich Tschupp bei Becherklang, Würfelspiel und lauten Worten zu vorgerückter Stunde ertappt worden war. Wenn er meinte, dass er in der freiern Luft Badens sich ein Spiel wohl gestatten könne, war er übel beraten; auch das vernahmen die Brugger Chorrichter. Ein andermal belustigte er sich damit, den Jeronimus Dünz zu «verbrämen» und ihn so in der Stadt herumlaufen zu lassen. Ein amüsantes Beispiel überliefert das Chorgerichtsprotokoll von 1661: Da war Gladi an einer Hochzeit seiner Verwandten Stäbli gewesen und hatte in übermütiger Laune in der Vorstadt seine Schwägerin umarmt und verküsst. Vom Chorgericht zur Rede gestellt, bekannte er seine Tat und meinte, er hoffe nicht, dass es ihr etwas geschadet habe! Aber die «Ehrbarkeit», wie das Chorgericht auch genannt wurde, verstand keinen Spass und verurteilte ihn zu einer Geldbusse. Vor allem um einer Tat willen, war Claude den Chorrichtern missliebig: Er handelte nämlich mit Tabak, und das Rauchen galt noch als Laster und Luxus zugleich. Noch 1676 wurde einem Brugger vor Chorgericht seine Pfeife entrissen und in die Aare geschleudert!
In politischer Hinsicht trat Claude nicht hervor. Die alteingesessenen Familien waren nicht gesonnen, einem Neubürger den Zugang zu den Ämtern zu öffnen. Er erlebte die stürmischen Zeiten des Bauernkrieges von 1653, als es im nahen Schenkenbergertal unruhig wurde und Brugg sich als sichere Stütze des bernischen Staates erwies, wofür es eigens belohnt wurde. Er sah drei Jahre darauf auch die Brugger Truppen zum ersten Villmergerkrieg ausziehen, der ja für die Reformierten unglücklich ausging; neun Brugger fanden den Tod auf dem Schlachtfeld.
In seinen letzten Lebensjahren wurde Claude Belart in mancher Hinsicht ein unglücklicher Mensch. Ende 1662 starb ihm kurz nach der Geburt des Töchterchens Salome die Gattin. Er verehelichte sich nach wenigen Wochen mit der 37-jährigen Katharina Bernhauser von Zürich. Sie entstammte einer seit 200 Jahren in Zürich eingebürgerten Familie, deren Angehörige wie Claude das Handwerk des Weissgerbers betrieben. Er muss die Familie schon früher gekannt haben, denn Katharinas Bruder Hans, der mehrfach Mitglied des Grossen Rates und später Zunftmeister zur Gerwe und Ratsherr wurde, stand seinem jüngst geborenen Kind Salome Pate.
Die Ehe wurde nicht glücklich. Es wurde bald offenbar, dass Claude ein Verhältnis mit seiner Magd Anna Finsterwald von Villigen hatte, und so begehrte Katharina schon nach kurzer Zeit die Auflösung der gebrochenen Ehe. Umsonst versuchte der Rat, die Ehe zu retten. Die Sache kam vor das Oberchorgericht zu Bern, wo am 6. April 1663 die Scheidung ausgesprochen und Claude zur Herausgabe des Frauengutes verurteilt wurde.
In den folgenden Jahren geriet er mehrfach in finanzielle Schwierigkeiten. Mehrere Gläubiger forderten ungeduldig die Bezahlung der Schulden, und Claude hatte häufig mit dem Gericht zu schaffen, so in einem Erbschaftsstreit mit seiner Schwester Susanne, die mit Christoph Vätterli verheiratet war. Er verkrachte sich auch mit der Familie Frölich wegen einer Scheune, die er ihr abgekauft hatte und für die er ihr eine Anzahlung von 80 Gulden geleistet haben wollte, was ihm mangels Beweisen nicht anerkannt wurde.
Er verheiratete sich am 6. Februar 1665 zum dritten Mal mit Ursula Wild, seiner Magd. Mehr und mehr scheint er ein aufgeregter, jähzorniger Mensch geworden zu sein, der manchmal allzu sehr dem Weine zusprach und um dessen häuslichen Frieden es nicht immer zum besten bestellt war.
Im Herbst 1667 brach das Unglück über unsere Stadt herein. Die Pest trat auf und errichtete ihr gnadenloses, schreckliches Regiment. Bis zum Jahresende wurden 280 Menschen von der Krankheit dahingerafft, und das Sterben dauerte das ganze folgende Jahr noch an. Auch die Familie Belart wurde getroffen. Schon gleich in den ersten Wochen des grossen Sterbens wurde der 14-jährige Aaron dem Vater entrissen und zwei Monate darauf der 12-jährige Abraham. Der schwer getroffene und in vielerlei Hinsicht aus der Bahn geworfene Mann überlebte diese Schläge nicht lange. Sein Name erscheint noch im Dezember 1668; er scheint also von der Pest verschont geblieben zu sein, doch wird er wohl recht bald darauf auch sein Leben beschlossen haben, denn die 1670 einsetzenden Totenverzeichnisse enthalten seinen Namen nicht mehr. Glück und Unglück, Gelingen und Versagen sind in seinem Leben wie Zettel und Einschlag unlösbar ineinander gewoben.
Zwei Tatsachen verdienen abschliessend festgehalten zu werden: Claude Belart ist um seiner religiösen Überzeugung willen aus seiner Heimat ausgewandert und hat hier in Brugg die Familie begründet, als deren Glieder Sie heute hier zusammengekommen sind.